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Diabetes ist kein Gefängnis

Studentin J.S. erzählt von ihrer Diagnose, ihren Zielen, ihrem ständigen Begleiter und dessen Nach-, aber eben auch Vorteilen. Und der hohen Kunst, die Krankheit auch mal mit Humor zu nehmen...

Diabetes ist kein Gefängnis

Der Tag, der mein Leben auf den Kopf stellte, werde ich nie vergessen. Es war ein Donnerstagmorgen im März 2011, eineinhalb Monate vor meinem 25. Geburtstag. Ich erinnere mich daran, dass ich vor dem Badezimmerspiegel stand. An dieses bleiche Gesicht, das mir daraus entgegen blickte. Und an einen Gedanken, der plötzlich Form annahm: „Das bist nicht mehr du.“ Es war Panik, die an diesem Morgen plötzlich aus mir herausbrach. Ich hatte Tränen in den Augen. Die seit Monaten anhaltende Ungewissheit über meinen Gesundheitszustand war für mich zu einer untragbaren Belastung geworden.

Mein Umfeld hatte die Warnzeichen lange ebenso wenig ernst genommen wie ich. Warum auch? Mir ging es ja gut. Ich hatte gerade mit meinem Masterstudium an der Uni Zürich angefangen, war aktiv, viel unterwegs und sehr erfolgreich. Nur manchmal stellte ich meine Fragen. Es waren Fragen, mit denen ich meine Zweifel loswerden wollte: „Bin ich nicht zu dünn?“ „Du bist schon immer dünn gewesen, sei doch froh“, erhielt ich zur Antwort. “Diabetes? Dafür bist du doch viel zu jung“, meinte ein Freund. „Du isst halt zu wenig“, sagte meine Mutter, und der Vorwurf einer Essstörung liess mich aus Trotz morgens bis zu fünf Kuchenstücke hintereinander verschlingen. „Das liegt an der Trennung“, trösteten mich wiederum diejenigen, denen ich später meine depressive Verstimmung anvertraute. Und als ich fünf Wochen vor meiner Diagnose in einer Apotheke die Drogistin um Urinteststreifen bat, wurde mir mit Unverständnis begegnet: „Sie glauben wirklich wirklich, Sie haben Diabetes? Wissen Sie was? Gehen Sie lieber zum Arzt.“ Da liess ich das Päckchen, das mir hätte Gewissheit verschaffen können, mutlos in der Apotheke zurück.

An diesem Donnerstagmorgen hielten alle Beschwichtigungen dem diffusen Gefühl von Angst nicht mehr Stand. Meine Mutter brachte mich in die Notfallpraxis des Kantonsspitals Baden. Ich kämpfte gegen mich selbst. War ich wirklich krank genug für einen solchen Schritt? Im Wartesaal sass eine Frau mit einer offenen Gesichtswunde. Plötzlich schämte mich, hatte Angst, als Hypochonder abgestempelt zu werden.

Die Notfallärztin war sympathisch. Zum ersten Mal fühlte ich mich ernst genommen. Ich zählte meine Beschwerden auf. Meine Vermutung behielt ich für mich. Ich wollte kein Hypochonder sein. Es war eine ironische Fussnote in meiner Geschichte, dass dieselbe Ärztin zunächst vergass, meine Blutzuckerwerte zu überprüfen. „Ich glaube Ihnen, dass es ihnen nicht gut geht.“, meinte sie ratlos, und wollte mir schon die Hand zum Abschied reichen, als sie im letzten Moment aus dem Zimmer rannte, um die Werte auf einer Tabelle zu überprüfen. Als sie die Tür wieder hinter sich schloss, erkannte ich an ihrem ernsten Gesicht, was ich seit Wochen geahnt hatte: „Es tut mir so leid für Sie. Sie sind noch so jung, Sie wissen gar nicht, wieviel da noch auf Sie zukommt.“ Mit diesem Satz wurde ich für eine Woche stationär eingeliefert.

Tatsächlich wäre es falsch zu behaupten, dass ich geahnt hätte, was auf mich zukommen würde. Ich denke, dass ich das auch heute, nach einem Jahr, noch nicht abschätzen kann. Mir ging es wie vielen frisch Diagnostizierten: Ich hatte es lange geahnt. Seit über einem Jahr hatte sich mein Gesundheitszustand schleichend verschlechtert. Das alles in einer intensiven Lebensphase, in der es mir eigentlich hätte gut gehen müssen.

Im Sommer 2010 war ich mit einer Freundin nach Instanbul gereist. Schon damals hatte ich gefühlt, wie ich ihrem Esprit nicht mehr folgen konnte. Lief ihr abgeschlagen hinterher. Hatte ein hohes Schlafbedürfnis und verstand nicht, warum ich mich über nichts mehr freuen konnte. Mein Kopf wollte, mein Körper versagte mir die Unterstützung. Meine Hausarbeiten schrieb ich in einem Dämmerzustand, unkonzentriert, ohne Fokus. In den Vorlesungen verschwamm mein Gesichtsfeld. Nachts wachte ich auf, schreiend, weil sich meine Beine verkrampften. Meine Pyjamas waren durchgeschwitzt, mein Schweiss roch ungewohnt streng. Tagsüber spürte ich meine Fusssohlen nicht mehr. Nach dem Essen lag ich apathisch auf dem Sofa. Den Gesprächen meiner Freunde konnte ich kaum noch folgen.

Richtig ernst wurde es an Silvester 2010/11. Meine Beziehung ging in die Brüche. In dieser Phase hatte ich die ersten Symptome einer Ketoazidose. Ein fauliger Geruch aus meinem Mund, gegen den kein Zähneputzen half. Abends beim Einschlafen spürte ich die Rippen, die sich immer mehr unter meiner Haut abzuzeichnen begannen. Immer öfters hörte ich mich den Satz sagen, der meine Situation wohl kaum hätte besser umschreiben können: „Ich habe einfach keine Energie mehr.“ Damals machte ich noch meine Psyche verantwortlich für die Lethargie, die mich morgens kaum aus der Haustür brachte. Eine Trennung braucht Zeit, dachte ich. Und wunderte mich darüber, warum es mir nach zwei Monaten noch schlechter ging als vorher. Meine Haut begann zu jucken, ich bekam Ausschläge. Beim abendlichen Volleyballtraining fühlte ich mich fiebrig und matt, beim Treppensteigen fühlte ich mich wie eine alte Frau.. In den Skiferien steuerte ich im Halbstundentakt eine Skihütte an, um mich mit Wasser zu versorgen. Mein Bruder tippte beim Abendessen meine Symptome in sein Handy: „Du hast Diabetes“, meinte er, halb im Scherz. „Daran habe ich auch schon gedacht“, meinte ich. Und lachte trotzdem.

Kein Wunder, war da Erleichterung, als man mich an diesem Donnerstagmorgen ins Spital einlieferte. Ich fühlte mich erleichtert. Den Sätzen der Notärztin hatte ich sofort widersprochen. „Man kann damit leben“, hatte ich gesagt. Und mit dieser Kampfansage wehrte ich mich von Beginn an gegen die pessimistische Einstellung des Ärzteteams: „Ist in den letzten Wochen eine psychische Belastung aufgetreten?“ hatte der Arzt mich auf seiner Visite gefragt. „Ja, eine Trennung.“ „Na sehen sie, da ist man ein Problem los, und schon hat man ein Neues.“ Ich lachte ihn aus.

Diese positive Einstellung stiess bei meinem Umfeld auf starke Bewunderung. Ich habe die Krankheit von Anfang an nicht verheimlicht. Dass ich überhaupt auf diese Weise mit der Krankheit umgehen konnte, habe ich auch meinen Eltern zu verdanken, die mich unterstützten, ohne mir das Gefühl zu geben krank zu sein. Aber in mir drin lagen auch viele Ängste, die ich zu Beginn nicht wahrhaben wollte. Ich zeigte sie nicht offen. In diesen ersten zwei Monaten lavierte ich zwischen optimistischem Tatendrang und Selbstmitleid. Im Spital lag ich in der Nacht unter der Bettdecke und googelte mich durch alle Folgeerkrankungen, geriet zeitweise in Panik. Ich schlief schlecht. Dennoch wollte ich bereits nach drei Tagen wissen, wann man mich entlassen würde. Einen Tag nach meiner Entlassung setzte ich mich ins Flugzeug und flog nach Berlin. Erst in der Realität angekommen, begann ich zu begreifen, dass es noch lange dauern würde, bis ich wieder ein halbwegs normales Leben würde führen können.

Ob die Krankheit mich verändert hat? Diese Frage beschäftigte mich noch Monate nach der Diagnose, und war begleitet von Ängsten, dass der Diabetes meine Persönlichkeit von Grund auf verändern würde. Plötzlich schien ich von allem, was ich am Leben schätzte und das ich mir über Jahre in zähen Entwicklungsschritten erkämpft hatte, abgeschnitten: Wann sollte ich noch Spontanität leben können, wenn der Therapieerfolg davon abhing, vorausplanend und diszipliniert zu sein? Wie mit der Hypoangst umgehen, insbesondere beim Sport, einem so wichtigen Teil meines Lebens? Wie ie Stimmungsschwankungen, die ein zu hoher oder zu tiefer Blutzucker auslösen, akzeptieren, ganz ohne Selbstvorwürfe?

Nach anfänglich positiver Einstellung zog ich mich mehr und mehr zurück. Anstelle Parties zu feiern, blieb an den Wochenenden zu Hause; studierte stundenlang Fachliteratur und Internetforen. Es wurde zu einer Obsession. Es war eine Zeit starker Ich-Bezogenheit, in der ich nicht offen für andere war. Das war nicht schön, aber ich möchte diese Phase dennoch nicht missen, denn erst das Wissen erlöste mich nach und nach aus meiner Vorstellung von Hilflosigkeit.

Der Schlüsselmoment, der mich wieder ins Leben zurückholte, hatte ich zwei Monate nach meiner Diagnose, an einem meiner schwarzen Wochenenden, an denen ich im Selbstmitleid versank. Plötzlich erkannte ich, dass nicht der Diabetes, sondern ich mir ein Gefängnis gebaut hatte. Und dass ich mein Leben nur über den Mut, mich über selbst auferlegte Grenzen hinwegzusetzen, zurückerobern konnte. Das hat für mich die Situation schlagartig verändert. Ich hatte einen guten Sommer. Mein Körper erholte sich. Mit jeder Situation, die ich mit dem Diabetes meisterte, kam auch mein Selbstvertrauen wieder zurück. Und der Diabetes, den ich zu Beginn über alle Themen gestellt hatte, wurde zu einer Nebensache, der ich die nötige Aufmerksamkeit zukommen liess, der mein Denken aber nicht mehr beherrschte. Im Mai 2011 fiel ich in die Remissionsphase und ich kam bis Dezember 2011 ganz ohne Langzeitinsulin an. Das Ende setzte mich für einen Tag in einen Schockzustand. Seitdem habe ich mich aber auch mit diesen veränderten Bedingungen arrangiert.

Sicher ist, dass mich die Krankheit gezwungen hat, mich mehr mit meinen Bedürfnissen auseinander zu setzen. Mir selbst gegenüber liebevoller und meinem Körper mit mehr Aufmerksamkeit zu begegnen. Das brauchte Zeit. Heute entscheide ich bewusster, was mir gut tut und was nicht. Dazu gehört auch manchmal, für den Diabetes „Nein“ zu sagen. Aber genauso oft auch, etwas mit dem Diabetes zu riskieren, und sich gegen ärztliche Vorgaben zu stellen — mit eigenen Therapieansätzen. Das gibt mir Selbstvertrauen.

Meine Krankheit zu akzeptieren, fiel mir nicht schwer. Viel schwerer war es für mich, zu akzeptieren, dass sich eine chronische Krankheit nicht bis ins Letzte kontrollieren lässt. Dass der Diabetes seine Launen hat. Und dass es von Zeit zu Zeit auch bedeutet: Hilflos und schwach zu sein. Eine Belastung zu tragen, für die man nichts kann. Heute gebe ich mir keine Schuld mehr für unerklärlich überhöhte Werte. Ich gebe mir Mühe, mehr liegt nicht drin. Mein Körper ist keine Maschine. Mein Umfeld weiss Bescheid und nimmt darauf Rücksicht.

Dabei hat dieses neue Körperbewusstsein auch Vorteile. Stress — auch unbewusster — kann ich seit der Diagnose nicht mehr ignorieren. Die Krankheit zwingt mich dazu, mich früh mit verdrängten Emotionen auseinander setzen. Seit meiner Diagnose treibe ich mehr Sport denn je. Achte auf eine bewusste Ernährung und mache dabei neue kulinarische Entdeckungen. Heute erfüllt mich jede Phase, in der ich mit meinem Diabetes harmonisch auskomme, mit grosser Dankbarkeit.

In einem Jahr werde ich meinen Master abschliessen. Mit der Krankheit, und ohne Verzögerung. Meine Lebensziele werde ich für den Diabetes niemals aufgeben. Und auch nicht das grosse Bedürfnis, mich ab und an fallen zu lassen. Gegen die Vernunft. Ich bin sicher: Solange ich meinen Diabetes als Partner betrachte, auf dessen Kosten ich den einen oder anderen Witz riskieren darf, werden wir auch die nächsten Jahre gut miteinander klarkommen. Auf eines kann ich zählen: Verlassen wird er mich nicht mehr. =)

J.S., Studentin, Februar 2012

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